Die Mannheimer Schule

Mozart und Mannheim

»Wie ich Mannheim liebe, so liebt auch Mannheim mich« – diese berühmte Liebeserklärung des jungen Wolfgang Amadeus Mozart, die er im November 1778 in Mannheim niederschrieb, ist eine Hommage an eine Stadt, in der er glückliche Monate verbracht hatte. Hier schloss er lebenslange Freundschaften zu Hofmusikern, verliebte sich unsterblich in Aloysia Weber – und heiratete 1782 ihre Schwester Constanze, hier machte er die Erfahrung, dass die Hofmusiker keine Lakaien, sondern geachtete Bürger der Stadt waren, die sich durch die für gewöhnlich ausreichende höfische Versorgung ganz auf die Ausübung ihres Berufes konzentrieren konnten, und hier wurde sich der berühmte Klaviervirtuose – und dies ist entscheidend – seiner wahren Berufung als Komponist bewusst. So schrieb er im Februar des Jahres an seinen Vater nach Salzburg: »ich bin ein Componist, und bin zu einem kapellmeister gebohren. ich darf und kann mein Talent im Componiren, welches mir der gütige Gott so reichlich gegeben hat, (ich darf ohne hochmuth so sagen, denn ich fühle es nun mehr als jemals) nicht so vergraben«.

Aus der ersehnten Kapellmeisterstelle wurde zwar bekanntlich nichts, da es keine »Vacatur« gab, aber durch die Vermittlung seines väterlichen Freundes Christian Cannabich erhielt er immerhin zwei Jahre später den ehrenvollen kurfürstlichen Auftrag, die Oper Idomeneo komponieren zu dürfen.

Anziehungspunkt für berühmte Zeitgenossen

In jenem November, als das junge Genie aus Salzburg auf der Heimreise noch einmal in Mannheim Station machte, waren die Hofgesellschaft und damit auch ein Großteil der Hofmusiker auf Grund der bayerischen Erbfolgeregelung mit dem bevorstehenden Umzug nach München beschäftigt. Das Jahr 1778 markiert daher auch das Ende einer Ära, die für die Stadt in kultureller und musikhistorischer Hinsicht vielleicht als die bedeutendste angesehen werden kann. In den zurückliegenden 35 Regierungsjahren des Kurfürsten Carl Theodor hatte sich die Residenzstadt zu einer der fortschrittlichsten und zugleich führenden Musikmetropolen in Europa entwickelt.

Zu den vielfältigen höfischen Veranstaltungen der Wintermonate, die mit dem Namenstag des Kurfürsten am 4. November begannen und nach der Karnevalszeit endeten, trafen jedes Jahr mehrere Tausend Besucher in Mannheim ein. Hauptanziehungspunkte waren, neben den repräsentativen Opernaufführungen, die konzertanten Darbietungen der Hofkapelle (Sänger und Instrumentalisten), deren Orchester von vielen Zeitgenossen bekanntlich als eines der besten in ganz Europa angesehen wurde. Zu ihren prominentesten Zuhörern zählten neben den Mozarts Johann Christian Bach, Niccolò Jommelli, Christoph Willibald Gluck, Luigi Boccherini, Johann Friedrich Reichardt, Christian Friedrich Daniel Schubart, Charles Burney, Carl Ludwig Junker, Johann Wolfgang von Goethe, Friedrich Gottlieb Klopstock, Christoph Martin Wieland, Gotthold Ephraim Lessing, Wilhelm Heinse und Friedrich Heinrich Jacobi.

Paradies der Tonkünstler

Entsprechend zahlreich, wenn auch von unterschiedlichem Wert, sind überlieferte Reiseberichte und musikalische Nachrichten. So veranlassten die Leistungen der Hofkapelle beispielsweise Klopstock 1775 zu dem Ausruf: »Man lebt hier recht in den Wollüsten der Musik!« Das wohl berühmteste Lob sprach Schubart dem Mannheimer Hoforchester in seinen Ideen zu einer Ästhetik der Tonkunst aus: »Kein Orchester der Welt hat es je in der Ausführung dem Manheimer zuvorgethan. Sein Forte ist ein Donner, sein Crescendo ein Catarakt, sein Diminuendo – ein in die Ferne hin plätschernder Krystallfluss, sein Piano ein Frühlingshauch«.

Sachlicher klingt es dagegen im Reisebericht des englischen Musikgelehrten Charles Burney, der die kurpfälzische Residenz 1772 besuchte: »Ich kann diesen Artikel nicht verlassen, ohne dem Orchester des Churfürsten Gerechtigkeit zu erweisen, welches mit Recht durch ganz Europa so berühmt ist. Ich fand wirklich alles daran, was mich der allgemeine Ruf hatte erwarten lassen. Natürlicher Weise hat ein stark besetztes Orchester grosse Kraft. Die bey jeder Gelegenheit richtige Anwendung dieser Kraft aber muß die Folge einer guten Disciplin seyn. Es sind wirklich mehr Solospieler und gute Komponisten in diesem, als vielleicht in irgend einem Orchester in Europa. Es ist eine Armee von Generälen, gleich geschickt einen Plan zu einer Schlacht zu entwerfen, als darin zu fechten«.

Für Jacobi war Mannheim 1777 zweifellos »nun einmal das Paradies der Tonkünstler«. Die beste Gelegenheit, diese erstklassigen Darbietungen des Orchesters mitzuerleben, boten die musikalischen Akademien.

Die Konzerte fanden in den Wintermonaten im sog. Rittersaal, dem Prunksaal des Mannheimer Schlosses, statt. Während der Sommermonate – von Mai bis Oktober – wurden sie in der Sommerresidenz in Schwetzingen veranstaltet.

Die Hofgesellschaft saß nach einer festgelegten Sitzordnung an kleinen Spieltischen und unterhielt sich bei einer Tasse Schokolade, Tee oder Kaffee mit Kartenspiel. Das Orchesterpodium befand sich im Rittersaal gegenüber der Fensterfront. Obwohl von diesen musikalischen Akademien keine Konzertzettel bekannt sind, ist aufgrund zeitgenössischer Aussagen mit Sicherheit anzunehmen, dass die Hofkonzerte drei bis vier Stunden dauerten, und dass, wie andernorts auch, Sinfonien mit Solokonzerten und Opernarien in lockerer Folge abwechselten.

 

 

Die legendäre Orchesterkultur setzt Maßstäbe

Die ungewöhnliche Orchesterstärke (im Jahr 1777 allein 22 Geigen!), die mustergültige Spieldisziplin und Ausführung der Kompositionen sind die immer wiederkehrenden Themen der Zeitgenossen, wenn sie die Leistungen des Hoforchesters beschreiben.

Kern des Orchesters und der Disziplin waren wie überall in Europa die Streicher. Mit Johann Stamitz hatte der Kurfürst einen der besten Geigenvirtuosen seiner Zeit engagiert. Stamitz' Verdienst liegt in der Gründung und im Aufbau der Violinklasse. Dieser Aufbau begann 1747 mit der Rückkehr des Hofes von Düsseldorf nach Mannheim. Innerhalb von 10 Jahren entwickelte sich das Mannheimer Hoforchester unter Stamitz' Direktion zu einem der größten Ensembles des 18. Jahrhunderts.

Die Musiker, die im modernen Sinn schon sehr früh zu Spezialisten für nur ein Instrument ausgebildet wurden, gehörten zu den besten Virtuosen in ganz Europa. Durch Stamitz' Leistung verstand man im 18. Jahrhundert unter dem Begriff Mannheimer Schule zunächst eine Violin- bzw. Orchesterschule. Die legendäre Orchesterkultur ist nicht zuletzt auf die einheitliche Ausbildungsmethode zurückzuführen, die sich im Rahmen dieser konsequenten Aufbauarbeit ergab. Förderlich im Hinblick auf die spieltechnischen Qualitäten wirkten sicherlich auch die nicht selten über Generationen verbleibenden Familien und Dynastien von Instrumentalisten, Sängern und Komponisten wie die Familien Cannabich, Cramer, Danzi, Fränzl, Friedel, Grua, Hampel, Heroux, Lang, Lebrun, Ritschel, Ritter, Sepp, Toeschi, Wendling oder Ziwini, die auch insofern ihren direkten Beitrag zur Ausbildung leisteten, als oftmals der erste oder sogar alleinige Unterricht durch ein Familienmitglied erfolgte.

Quellenkundlich dokumentiert sind ferner zahlreiche freundschaftliche und verwandtschaftliche Beziehungen der Kapellmitglieder, die den Eindruck der engen Verbundenheit nachdrücklich bekräftigen. Maßgeblich für die Spielqualität der Musiker war darüber hinaus die Wahl des Orchestererziehers, die in Mannheim mit Stamitz und seinem Nachfolger und Meisterschüler, Christian Cannabich, erstklassig ausfiel. Die Entwicklung von einem guten Hof- zu jenem berühmten Virtuosenorchester der 1770er Jahre ist Cannabichs Verdienst. Laut Schubart genügten bereits ein »Nicken des Kopfes« und ein »Zucken des Ellenbogens«, um eine vollendete Wiedergabe der Kompositionen zu gewährleisten. Cannabichs Führungsstil, der von zeitgenössischen Kollegen übernommen wurde, setzte Maßstäbe in der modernen Orchester-Erziehung und Orchester-Disziplin.

Orchester der Komponisten und Virtuosen

Neben den beschriebenen Merkmalen zeichnete eine weitere Besonderheit die Mannheimer Hofkapelle vor allen anderen aus. Das, was Charles Burney in dem Bild der »Armee von Generälen« zusammenfasste, war die Tatsache, dass hier nicht wie andernorts die Konzertmeister oder Kapellmeister auch komponierten, sondern dass es in keinem anderen Orchester der Epoche mehr bedeutende Komponisten und Virtuosen in einer Person gab als in diesem Ensemble: Im Jahr 1777 waren es die Geiger Christian Cannabich, Georg Czarth, Ignaz Fränzl, Carl Joseph und Johann Baptist Toeschi, Peter Winter, Christian Danner, der Violoncellist Innozenz Danzi, der Fagottist Georg Wenzel Ritter, die Flötisten Johann Baptist Wendling und Georg Metzger, der Hornist Franz Anton Dimmler, die Oboisten Friedrich Ramm und Ludwig August Lebrun sowie dessen spätere Frau, die Koloratur-Sopranistin Franziska Danzi, ferner der (Sänger)-Bassist Giovanni Battista Zonca und schließlich die Kapell- bzw. Vizekapellmeister Ignaz Holzbauer und Georg Joseph (Abbé) Vogler.

Der früheste Beleg für die Mannheimer Schule, verstanden als Kompositionsschule, findet sich im Widmungstext an die Kurfürstin Elisabeth Augusta, den Mozart seinen sechs Violinsonaten (KV 301-306) aus dem Jahr 1778 voranstellte. Eine allgemeingültige Festlegung eines spezifischen Mannheimer Kompositionsstils kann in Anbetracht des bisher noch lückenhaft erschlossenen umfangreichen Gesamtschaffens der Hofkapelle nicht erfolgen.

Zur Lösung des Problems trägt die Arbeit des 1990 gegründeten Forschungsprojektes Mannheimer Hofkapelle der Heidelberger Akademie der Wissenschaften bei, dessen vorrangiger Arbeitsauftrag in der Rekonstruktion des Repertoires sowie der Sammlung und Interpretation der Kompositionen der Mannheimer Schule besteht. Das derzeitig bekannte Repertoire, das analog zum reichhaltigen Musikleben alle musikalischen Gattungen umfasst, dokumentiert die Loslösung vom Generalbasszeitalter, eine wachsende Emanzipation der Bläser vom Streicherapparat – indem ihnen zunehmend melodiebetonte Abschnitte übertragen wurden – und die Ausbildung einer aussagekräftigen Orchestersprache: Gemeint sind die ausgefeilte Kontrastdynamik (das Aufeinandertreffen von Forte und Piano auf engstem Raum) oder etwa das berühmte, auskomponierte Orchestercrescendo, das jedoch nicht nur eine dynamische Belebung darstellt, sondern vornehmlich eine tektonische Aufgabe innerhalb des Sinfoniesatzes zu erfüllen hat; charakteristisch sind ferner bestimmte Eröffnungswendungen, wie beispielsweise Unisono-Anfänge, die auch Mozart während seines Winteraufenthaltes 1777/78 als typisches Kennzeichen insbesondere der Sinfonien Cannabichs wahrnahm.

Die weitere Erforschung der Instrumentalmusik wird zeigen, inwieweit die Kompositionen der Mannheimer Schule mit ihrer differenzierteren Instrumentation und der damit zusammenhängenden Erschließung neuartiger Klangbereiche und Klangmöglichkeiten neue Impulse gaben und damit nicht zuletzt den Boden für die Orchestermusik der Romantik bereiteten.

Dr. Bärbel Pelker
Forschungsstelle Mannheimer Hofkapelle der
Heidelberger Akademie der Wissenschaften